Der Flowtex-Skandal: Wie Politik und Fiskus jahrelang von einem gigantischen Wirtschaftsbetrug profitierten
Meinrad Heck
Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2006
204 S.


Gegenstand, Methodik, Datengrundlage:
Die journalistische Aufarbeitung des Flowtex-Skandals, dem größten Betrugsfall der bundesdeutschen Kriminalgeschichte, der zugleich ein Schlaglicht auf die Verflechtung krimineller und politischer Strukturen in Deutschland wirft.

Inhalt:
Im Mittelpunkt des Flowtex-Skandals stehen der Unternehmer Manfred Schmider, genannt "Big Manni", sein Geschäftspartner Klaus Kleiser sowie einflussreiche Kreise der baden-württembergischen Politik.

Schmider und Kleiser kontrollieren ein Geflecht von Firmen, zu denen die "KSK guided microtunneling GmbH" und das Flowtex Unternehmen gehören. Schmider wird als "Vorzeigeunternehmer" gefeiert, der mit einer genialen Erfindung zu Reichtum gelangt ist: Horizontalbohrmaschinen, mit denen Leitungen verlegt werden können, ohne den Boden aufzureißen. Tatsächlich werden mit den Horizontalbohrmaschinen jedoch kaum Umsätze gemacht. Die meisten der Geräte existieren nur auf dem Papier. Grundlage des Reichtums ist Betrug, der darin besteht, dass die KSK GmbH Banken und Leasinggesellschaften nicht existierende Horizontalbohrsysteme zu Stückpreisen bis zu 1,2 Mio DM verkauft, die offiziell von Flowtex gemietet werden. Die Raten bezahlt Flowtex mit dem Geld, das die KSK zuvor aus den Verkäufen eingenommen und mit Hilfe eines Rechtsanwalts an Flowtex weitergeleitet hat. Um den Finanzbedarf für die Bezahlung von Leasingraten, zuletzt in Höhe von 60 Mio DM, zu decken, müssen neue Systeme in immer größerer Zahl verkauft werden. Zuletzt stehen in den Bilanzen mehr als 3.400 Bohrsysteme. Tatsächlich existierten nur 220, die zur Verschleierung des Schneeballsystems mit wechselnden gefälschten Typenschildern vorgeführt werden.

Manfred Schmider hatte sich nach abgebrochenem VWL-Studium zunächst als Gebrauchtwagenhändler versucht, bevor er in die Baubranche einstieg. Ein dringend benötigtes Sachverständigengutachten brachte ihn Mitte der 80er Jahre mit seinem späteren Geschäftspartner, dem promovierten Ingenieur und Baugutachter Klaus Kleiser, zusammen. Im Januar 1986 fliegen beide in die USA, um sich die europäischen Vertriebsrechte an einem Horizontalbohrsystem zu sichern, das die Firma FlowMole entwickelt hat. Der Vermarktung soll eine von Schmiders Firmen dienen, die von TexCote in Flowtex umbenannt wird. Die Bodenverhältnisse in Deutschland sind jedoch weit schwieriger als in Kalifornien. Es bedarf einer neuen Technik, um Hindernisse zu entdecken und die unterirdischen Bohrer daran vorbeizulenken. Dafür müssen sie noch exakter zu steuern sein, als ihre Erfinder in den USA geplant hatten. Kleiser entwickelt die Bohrsysteme weiter, doch die Realisierung und Erprobung erfordern Zeit, die Schmider und Kleiser nicht unbedingt investieren wollen.
Zunächst werden zwar tatsächlich einige Horizontalbohrgeräte bei einem Maschinenbauunternehmen im Schwarzwald in Auftrag gegeben, gebaut und bezahlt, die Flowtex an so genannte Servicegesellschaften weitervermietet. Doch anstatt mit den Bohrungen Geld zu verdienen, bleiben Aufträge weitgehend aus und die Servicegesellschaften produzieren hohe Verluste.
Ende der 80er Jahre finden Schmider und Kleiser heraus, dass ihre Hausbanken die neuen Geräte zum Stückpreis von anfangs knapp 800.000 DM finanzieren, ohne die erworbenen Systeme auch nur sehen zu wollen. Die Banker begnügen sich bereits mit der Vorlage von Kfz-Briefen für die Lastwagen, auf denen die Bohrmaschinen montiert werden sollen. Dementsprechend gehen die Flowtex-Bosse dazu über, nur noch die Lkw anzuschaffen. Schließlich verzichten sie auch darauf.

Flowtex, so scheint es, stand von Anfang an im Zusammenhang illegaler Aktivitäten. Kurz nach dem Erwerb der europäischen Vertriebsrechte für die Horizontalbohrmaschinen wurde Schmider in seinem Haus überfallen und Wertgegenstände sowie Bargeld entwendet. Die später gefassten Täter gaben an, von Schmider selbst den Auftrag für den Überfall erhalten zu haben, um sich, so die Vermutung, mit einem Versicherungsbetrug ein Startkapital in Höhe von 1,85 Mio DM für die Firma Flowtex zu beschaffen.
1993 stießen Betriebsprüfer auf Scheinbuchungen in Millionenhöhe zwischen den Bauunternehmen Schmiders und Flowtex zum Zwecke der Bilanzschönung. Offensichtlich sollte Umsatz vorgetäuscht werden, um bei den Banken kreditwürdig zu bleiben.
1996 erhielten die Finanz- und Justizbehörden dann erste Hinweise auf die betrügerischen Machenschaften mit nichtexistenten Horizontalbohrmaschinen. Diesen Hinweisen wurde jedoch nicht nachgegangen. Erst im Jahre 2000, unter dem Eindruck weit reichender Geldwäscheermittlungen spanischer und portugiesischer Behörden, schritten die Ermittlungsbehörden in Deutschland ein.

Dass Schmider so lange unbehelligt bleibt und das Betrugsunternehmen über Jahre in immer größerem Umfang fortgesetzt werden kann, erklärt Autor Meinrad Heck mit den engen Verbindungen zwischen Flowtex und Politik. Flowtex zahlt 70 Mio DM an Gewerbesteuer an die Stadt Ettlingen und ist schon aus diesem Grunde politisch wertvoll. Schmider schafft sich darüber hinaus ein Netzwerk von Kontakten bis in die höchsten Kreise der Landespolitik. Als besonders wichtig werden vom Autor in diesem Zusammenhang das Engagement Schmiders für den geplanten Regionalflughafen Baden und das Wirken des FDP-Politikers Jürgen Morlok herausgestellt.
1994 gründet Schmider zusammen mit Morlok die FlowNet GmbH, ein Unternehmen, mit dem kommunale Abwasser- und Energiebetriebe privatisiert und gleichzeitig die Vermarktung der Flowtex-Bohrmaschinen gefördert werden sollen. Schmider bezahlt Morloks Gesellschaftereinlage in Höhe von 200.000 DM, die dieser erst zurückerstatten soll, wenn FlowNet Gewinne abwirft. Dazu kommt es bis zum Zusammenbruch des Unternehmens im Jahre 2000 jedoch nicht.
Im Jahre 1996 wird die Baden-Airpark AG unter Führung Morloks neue Eigentümerin des Flugplatzes Baden. Jahrelang hatten Städte und Gemeinden vergeblich versucht, den früheren kanadischen Luftwaffenstützpunkt zu einem Großflughafen auszubauen. Nun soll es mit privaten und öffentlichen Mitteln gelingen. Hinter der Baden-Airpark AG, ebenso wie hinter FlowNet, steht Flowtex.
Der Schutz, den Schmider nun genießt, zeigt sich, als der angebliche Überfall aus dem Jahre 1986 plötzlich wieder hoch kocht. Morlok, Schmiders "Türöffner in die Politik" (S. 44), bearbeitet Bürgermeister und Vertreter der Industrie- und Handelskammer. In Briefen beschwört er sie, ohne Schmider gebe es keinen Flugplatz. Tatsächlich erhält die Staatsanwaltschaft einige Anrufe und stellt das Verfahren schließlich ein, da sich allein mit den Aussagen der zwei Tatverdächtigen "ein Tatnachweis nicht führen lasse". Die ermittelnden Polizeibeamten sind allerdings anderer Meinung. Diese haben, zitiert Heck, angesichts der "glasklaren Beweislage" gegen den Vorzeigeunternehmer fest mit einer Anklageerhebung gerechnet (S. 46).
Schmider bleibt auch unbehelligt als im April und Mai 1996 bei der Staatsanwaltschaft Karlsruhe telefonisch und dann schriftlich anonyme Anzeigen eingehen, in denen das Betrugssystem mit den nichtexistenten Bohrmaschinen beschrieben wird. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren 1997 nach Vorermittlungen durch die Steuerfahndung ein. Im Ergebnis einer Betriebsprüfung werden von der Finanzverwaltung, trotz konkreter Anhaltspunkte für einen groß angelegten Betrug, lediglich 100 Millionen DM Steuernachzahlungen festgesetzt, die auch bezahlt werden. Ein ehemaliger Flowtex-Mitarbeiter, der sich einem Finanzbeamten offenbart, behauptet, Schmider habe von den anonymen Anzeigen erfahren, sei sich jedoch sicher, dass nichts herauskomme, denn er habe "die Leute gekauft" (S. 83). Der Informant hat Angst "um seine Gesundheit, da Schmider in entsprechenden Kreisen verkehre" (S. 84).

Zu Fall kam Schmider und das System Flowtex erst im Zuge von Geldwäsche-Ermittlungen der portugiesischen und spanischen Behörden und nach Einschaltung des Bundeskriminalamts im Jahre 1999. Im Januar 2000 sprachen die Betriebsprüfer der Finanzverwaltung Karlsruhe im Stuttgarter Finanzministerium vor und erhielten grünes Licht, bei der Staatsanwaltschaft Anzeige zu erstatten. Am 4. Februar 2000 wurden das Flowtex-Gelände in Ettlingen durchsucht und Schmider und Kleiser verhaftet. Schmiders jüngerer Bruder, der den internationalen Geldkreislauf über Scheinfirmen organisiert hatte, kam auf die Fahndungsliste. Er wurde erst über ein Jahr später mit gefälschtem Pass in Amsterdam festgenommen. Manfred Schmider wurde zu elfeinhalb Jahren Haft verurteilt, Klaus Kleiser zu neuneinhalb Jahren Haft.
Zum Kreis der Mittäter gehören auch einige Mitarbeiter der Firma Flowtex: eine Sekretärin und Schmiders Finanzvorstand sowie ein Techniker, der Typenschilder fälschte und an den vorhandenen Bohrmaschinen anbrachte. Ebenfalls ins Visier der Ermittler gerieten ein Drucker, der Blanko-Kontoauszüge zweier Großbanken druckte, und ein junger EDV-Mann aus der Flowtex-Zentrale, der mit diesen Vordrucken falsche Kontoauszüge herstellte.


Beurteilung:
Der Fall Flowtex ist in seiner Tragweite einer der bedeutendsten Kriminalfälle überhaupt. Der festgestellte Schaden in Höhe von knapp 4,6 Mrd. DM machte im Jahre 2001, als die polizeilichen Ermittlungen abgeschlossen wurden, rd. 22 Prozent des insgesamt in der Polizeilichen Kriminalstatistik ausgewiesenen Schadens aus. Im Bereich der Wirtschaftskriminalität lag der Anteil bei rd. 35 Prozent, und im Lagebild Organisierte Kriminalität, in das die Schadenssumme bereits für das Jahr 2000 einfloss, rd. 63 Prozent (vgl. Bundeskriminalamt 2001; 2002).
Das Buch von Meinrad Heck befasst sich schwerpunktmäßig allerdings nicht mit dem Betrugssystem Flowtex, sondern mit der Frage, warum dieses System solange fortbestehen konnte. Der Autor legt nahe, dass mehrere Faktoren eine Rolle gespielt haben. Er nennt Anhaltspunkte für die korruptive Einflussnahme auf insbesondere einen Beamten der Finanzverwaltung, aber auch vorauseilender Gehorsam gegenüber der Politik könnte ausschlaggebend dafür gewesen sein, das Erkenntnisse von der Finanzverwaltung nicht umgehend an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet worden sind und Ermittlungen anderer Dienststellen, namentlich der thüringischen Finanzverwaltung, die Mitte der 90er Jahre aufgrund eigener Erkenntnisse im Bereich Flowtex Untersuchungen angestellt hatte, zunächst abgeblockt wurden. Spiegelbildlich weist Heck der Politik ein gehöriges Maß an Verantwortung zu. Der von der Politik zum "Vorzeigeunternehmer" ernannte Schmider sei "nahezu unantastbar geworden" (S. 46). Ob die Allianz mit politischen Eliten, insbesondere einflussreichen Größen der baden-württembergischen FDP, Schmider darüber hinaus Immunität vor Strafverfolgung verschafft hat, lässt Heck offen. Er zitiert den Abschlussbericht des Flowtex-Untersuchungsausschusses des baden-württembergischen Landtags mit den Worten, es gebe "keinerlei Anhaltspunkte für eine gesteuerte, politisch motivierte Bevorzugung Manfred Schmiders" (S. 201). Richtig überzeugt scheint Heck von dieser Einschätzung nicht zu sein. Mit einer gewissen Bitterkeit zwischen den Zeilen stellt er fest, dass "Schmiders rechte Hand, der FDP-Ehrenvorsitzende Jürgen Morlok, (...) den Flowtex-Skandal unbeschadet überstanden" hat (S. 202).
Wie dem auch sei, der Fall Flowtex bestätigt die Vermutung, dass Straftäter, die in der sozialen Hierarchie weit oben stehen und über direkte Kontakte zu politischen Entscheidungsträgern verfügen, ein geringeres Strafverfolgungsrisiko tragen, gleichzeitig aber in ihren kriminellen Machenschaften ungleich erfolgreicher sind als die "üblichen Verdächtigen" wie Drogendealer oder Menschenhändler. Immerhin ist bezeichnend, dass - soweit ersichtlich - gegen Flowtex keines der Standardinstrumente der OK-Bekämpfung, wie Telekommunikationsüberwachung und V-Mann, zum Einsatz kam.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist das Buch von Meinrad Heck eine Einladung, die Mechanismen und Beziehungsgeflechte des Betrugssystems Flowtex nochmals eingehender, innerhalb eines kriminologischen Bezugsrahmens zu untersuchen. Im Übrigen wäre eine aktualisierte Ausgabe wünschenswert, die den Ausgang der verschiedenen Verfahren berücksichtigt, die zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches noch im Gange waren.


Gesamtbewertung:
Ein sehr informatives Buch über einen der größten Skandale der bundesdeutschen Kriminalgeschichte, das der journalistischen Aufgabe zur Aufklärung der Öffentlichkeit voll gerecht wird. Die Mechanismen des Betrugssystem Flowtex und die zugrunde liegenden Verflechtungen der Beteiligten werden allerdings nur soweit beschrieben, dass noch genügend Raum bleibt für eine eingehendere kriminologische Untersuchung.


Literatur
Bundeskriminalamt, Lagebild Organisierte Kriminalität 2000 Bundesrepublik Deutschland, Kurzfassung, Wiesbaden: Bundeskriminalamt, 2001
Bundeskriminalamt, Jahresbericht Wirtschaftskriminalität 2001, Wiesbaden: Bundeskriminalamt, 2002

Weiterführende Literatur
Jürgen Roth, Der Deutschland Clan: Das skrupellose Netzwerk aus Politikern, Top-Managern und Justiz, Frankfurt am Main: Eichborn, 2006
Jürgen Roth, Ermitteln verboten!, Frankfurt am Main: Eichborn, 2004


Update:
Juli 2007 - Ein Finanzbeamter wird vom Landgericht Mannheim wegen Vorteilsannahme zur einer Bewährungsstrafe verurteilt, jedoch vom Vorwurf freigesprochen, als Gegenleistung den Flowtex-Betrug gedeckt zu haben (Quelle: manager-magazin).
Oktober 2007 - Manfred Schmider wird nach Verbüßung von sieben Jahren einer elfeinhalb jährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung aus der Haft entlassen. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft eine neue Anklage wegen Insiderhandels im Zusammenhang mit der Firma Friatec erhoben. Eine weitere Anklage wegen Korruption ist in Vorbereitung (Quelle: n-tv).


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