Ermitteln verboten! Warum die Polizei den Kampf gegen die Kriminalität aufgegeben hat
Jürgen Roth
Frankfurt am Main: Eichborn, 2004
272 S.


Gegenstand, Methodik, Datengrundlage:
Eine journalistische Lageeinschätzung zur organisierten Kriminalität und ihrer Bekämpfung in Deutschland im Jahre 2004.

Inhalt:
Der investigative Journalist Jürgen Roth reiste im Winter 2003/2004 durch Deutschland, um sich von Polizei- und Zollbeamten, Staatsanwälten und Rechtsanwälten erzählen zu lassen, wie es um die organisierte Kriminalität und ihre Bekämpfung in Deutschland bestellt ist. Roth erlebte seine Gesprächspartner "durchwegs mutlos und niedergeschlagen" (11). "Viele Vorgänge erhärten den ungeheuren Verdacht (...), dass bestimmte Kriminalitätsformen wegen inniger Verflechtungen mit den politischen und wirtschaftlichen Eliten nicht mehr bekämpft werden sollen. Auf jeden Fall wird einiges aufgeboten, um die konsequente Arbeit qualifizierter Ermittler in der Polizei oder kundiger und erfahrener Staatsanwälte zu erschweren oder zu blockieren" (10).
Neben einer Reihe von Einzelfällen zählt Roth verschiedene allgemeine Ermittlungshindernisse auf, die nach seiner Einschätzung darauf hinauslaufen, dass besonders bedrohliche Kriminalitätsformen nicht mehr effektiv bekämpft werden. An erster Stelle nennt Roth den fehlenden politischen Willen. Organisierte Kriminalität als Thema sei aus der Mode gekommen, die Polizei und die Staatsanwaltschaften verfügten nicht mehr über die erforderlichen Ressourcen, komplexe Ermittlungen zu führen, und wo sich die Verfahren gegen bestimmte gesellschaftliche Kreise richteten, etwa Prominente, würden diese gezielt behindert.
Ein weiterer Faktor ist nach der Einschätzung von Roth die Einflussnahme krimineller Kreise auf die Strafverfolgungsbehörden direkt oder über den Umweg der Politik. Ansatzpunkt sei etwa die Verstrickung von Beamten und Politikern in das Rotlichtmilieu, wofür er Fallbeispiele unter anderem aus Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen zitiert. Gesonderte Abschnitte widmet Roth Verbindungen zwischen Politikern und kosovo-albanischen Kriminellen in Hamburg und Verstrickungen hochrangiger Polizeibeamter mit dem Rotlichtmilieu in Mecklenburg-Vorpommern.
Wie in anderen seiner Bücher, beschäftigt sich Roth auch in "Ermitteln verboten!" mit Personen aus der ehemaligen Sowjetunion. In einem Kapitel beschreibt er den wachsenden Einfluss von Bürgern aus der Ex-UdSSR in Baden-Baden. Diese kauften teure Immobilien auf und versuchten sich als honorige Geschäftsleute zu etablieren. Dem, so Roth, dürfe nicht länger tatenlos zugeschaut werden: "Es sollte zumindest so etwas wie die soziale Ächtung dieser ‚Investoren' geben, wenn es schon der Justiz unendlich schwer fällt, die Herkunft ihrer Gelder aufzuklären, weil der ukrainische oder russische Staatsapparat selbst involviert ist. Vielleicht verschwendet man in der noblen Kurstadt einmal einen Gedanken daran, dass in den Herkunftsländern der ‚Reichen' aus dem Osten die Verelendung epidemische Ausmaße angenommen hat, die auf der Ausplünderung durch Korrupte und Reiche basiert, die dem Staatshaushalt Milliarden stehlen und das Geld mit Wissen und zumindest indirekter Beteiligung der politischen Führung im Ausland anlegen" (201).
Roth beschließt seine Betrachtungen mit einer weiteren politischen Aussage: "Innere Sicherheit (...) setzt die Schaffung lokaler und nationaler stabiler sozialer Verhältnisse voraus. Soziale Gerechtigkeit und größtmögliche Freiheit bilden das Fundament einer demokratischen Gesellschaft. Und dieses Fundament ist auch in Deutschland dabei, einzustürzen" (261).

Beurteilung:
Roth präsentiert eine Reihe mehr oder weniger detailliert beschriebener Beispiele zum Beleg seiner These, dass in Deutschland einer zunehmenden Verflechtung politischer, wirtschaftlicher und krimineller Interessen nichts Wirksames entgegengesetzt werde. Die Beispiele sind durchaus eindrucksvoll und geben keinen Anlass zur Verharmlosung der Situation. In der Tat scheint es so zu sein, dass die Neuausrichtung der Strafverfolgung auf die Bekämpfung des "internationalen Terrorismus" in der Folge des 11. September 2001 auf Kosten der Bekämpfung anderer Kriminalitätsformen erfolgt ist und dass Ermittlungen in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen von der Politik eher behindert denn befördert werden. Es ist jedoch fraglich, ob die Verflechtungen von Oberwelt und Unterwelt in Deutschland systemische Dimensionen annehmen. Die Grundlage dieser Verflechtungen scheinen bislang persönliche Verstrickungen von Amtsträgern zu sein, die sich etwa im Rotlichtmilieu bewegen und dadurch erpressbar werden. Es gibt jedoch gegenwärtig keine Anhaltspunkte dafür, dass gesellschaftliche Eliten in Deutschland strategische Vorteile aus einem Bündnis mit kriminellen Strukturen ziehen könnten. Die größere Gefahr, die auch Roth kurz anspricht, dürfte darin liegen, dass sich die Machteliten in Deutschland mit unlauteren Machenschaften der demokratischen Kontrolle entziehen. Das ist allerdings mehr ein Thema von Lobbyismus, gekauften Medien und einer politischen und wirtschaftlichen Interessen untergeordneten Auftragsforschung.
Auch wenn man der pessimistischen Einschätzung Roths hinsichtlich der Verbindungen von Ober- und Unterwelt nicht folgen will, ist doch die Auseinandersetzung mit dem von ihm zusammengetragenen Material unverzichtbar. Das gilt sowohl für die öffentliche Debatte wie auch für die wissenschaftliche Beschäftigung mit "organisierter Kriminalität".

Gesamtbewertung:
In "Ermitteln verboten!" präsentiert Jürgen Roth eine Vielzahl von mehr oder weniger detailliert beschriebenen Fallbeispielen zur Verstrickung von Ober- und Unterwelt. Während die pessimistische Gesamteinschätzung in ihrer Tragweite nicht gerechtfertigt erscheint, gibt dieses Buch doch eine sehr eindrucksvolle und nachdenklich stimmende Bestandsaufnahme der Verhältnisse in Deutschland.


Weiterführende Literatur
Jürgen Roth, Der Deutschland Clan: Das skrupellose Netzwerk aus Politikern, Top-Managern und Justiz, Frankfurt am Main: Eichborn, 2006
Jürgen Roth, Rainer Nübel, Rainer Fromm, Anklage unerwünscht! Korruption und Willkür in der deutschen Justiz, Frankfurt am Main: Eichborn, 2007
Jürgen Roth, Mafialand Deutschland, Frankfurt am Main: Eichborn, 2009


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