Deutschland im Visier: Organisiertes Verbrechen
Hans-Werner Hamacher
Leipzig: Militzke, 2000
221 S.

Gegenstand, Methodik, Datengrundlage:
Eine autobiografisch eingefärbte Abhandlung über die Entwicklung organisierter Kriminalität in der Bundesrepublik und der darüber geführten kriminalpolitischen Diskussion aus Sicht eines leitenden Polizeibeamten.

Zum Inhalt:
In der Bundesrepublik fehlte es lange an der politischen und öffentlichen Einsicht in die Gefährdung, die von der organisierten Kriminalität ausgeht. Die Politiker wiegelten zunächst ab, weil sie den Vorwurf der ungenügenden Vorsorge fürchteten. Auch innerhalb der Polizei wurden die Gefahren zum Teil unterschätzt. Dies änderte sich erst als sich die Verbrecherszene so weit verfestigt hatte, dass ihre Existenz nicht mehr geleugnet werden konnte.
Die organisierte Kriminalität, wie sie in der Bundesrepublik Fuß gefasst hat, reicht vom milliardenschweren Großbetrug bis zur organisierten Straßenkriminalität. Die beteiligten Täter umfassen alle Generationen. Sie kommen sowohl aus den aller ärmsten Gesellschaftsschichten, als auch aus denen, die mehrmals in der Woche Smoking und Frack aus dem Kleiderschrank holen.
Organisierte Kriminalität gedeiht nicht im luftleeren Raum, sondern entsteht in einem begünstigenden gesellschaftlichen, vom Verfall der Moral gekennzeichneten Klima. In unserer kapitalistisch geprägten Lebensordnung, in der eine laxere Einstellung zu Werten und zum moralischen Verhalten gegen den Mitmenschen spürbar wird, werden Regelverletzungen begünstigt. Auf diesem Boden wächst eine neue Art organisierter Kriminalität, die nicht vorrangig durch Mord und Totschlag, Raub und Körperverletzung, sondern durch die vielfachen Spielarten der Wirtschaftskriminalität gekennzeichnet ist. Wirksame Möglichkeiten zur Abwehr der organisierten Kriminalität ergeben sich weniger aus dem Strafgesetzbuch als vielmehr aus Polizeigesetzen und der Strafprozessordnung. Die neuen gesetzlichen Bestimmungen haben sich jedoch in weiten Teilen als nicht geeignet erwiesen, die Strukturen der organisierten Kriminalität beizukommen, weil sie aufgrund von Vorbehalten bei Politik und Medien nur untaugliche Kompromisse darstellen. Eine wirkliche Chance zur Bekämpfung bieten der Zugriff auf die illegal erlangten Gewinne, die Erkundung der Finanzströme über V-Leute, der Einsatz von Lauschmitteln und die Gewinnung von aussagewilligen Zeugen. Zur Verbesserung der Ermittlungschancen ist u.a. folgendes erforderlich: Verbesserung der Informationsbeschaffung, -bewertung und -verwertung; Gestaltung der Organisation für grenzüberschreitende Maßnahmen; angepasste rechtliche Fahndungsmöglichkeiten für die Justiz und situationsangepasste Verfolgungsmöglichkeiten für die Polizei.

Beurteilung:
Roter Faden in Hamachers Abhandlung ist die Klage über das Unverständnis von Politik und Öffentlichkeit für die Bedürfnisse effektiver Verbrechensbekämpfung. Seine Position versucht er in dreifacher Hinsicht zu untermauern: mit einem historischen Abriss der von wenigen, darunter Hamacher, getragenen Bemühungen, den Begriff "organisierte Kriminalität" innerhalb der Polizei und in der kriminalpolitischen Diskussion der Bundesrepublik durchzusetzen, mit einem Abgleich von Kriminalitätslage und Bekämpfungsinstrumentarium, und schließlich mit in einem thematisch nicht zum Themenschwerpunkt des Buches passenden Abschnitt über den genetischen Fingerabdruck als Hilfsmittel bei der Aufklärung von Sexualstraftaten.
"Deutschland im Visier: Organisiertes Verbrechen" ist ein Vertreter jener für die späten 80er und frühen 90er Jahre typischen OK-Literatur, die vor dem Hintergrund eines recht diffusen Vorstellungsbildes einzelne Fallbeispiele ausbreiten und damit die These zu belegen versuchen, organisierte Kriminalität sei eine in der Bundesrepublik manifeste und in Quantität und Qualität an Brisanz seit Jahrzehnten kontinuierlich zunehmende Bedrohung. Hamacher präsentiert diese Position in Reinkultur und erlaubt so im Nachhinein ein besseres Verständnis jenes kleinen Kreises von Polizeioffiziellen, die in den 70er und 80er Jahren dem Begriff "organisierte Kriminalität" zum Durchbruch verholfen haben. Dazu zählen neben Hans-Werner Hamacher namentlich Otto Boettcher und Alfred Stümper. Gerade in der Nacherzählung dieser Bemühungen liegt der Hauptwert dieses Buches. So findet sich insbesondere eine recht detaillierte Beschreibung der Treffen von Hamacher und Stümper mit Bundeskanzler Kohl im Frühjahr 1988, die den Beginn der Etablierung des Themas "organisierte Kriminalität" in der großen Politik markieren.
Allerdings sind Hamacher in seiner Darstellung der historischen Entwicklung auch einige Fehler unterlaufen, insbesondere im Zusammenhang mit der 1982 von einem ad hoc-Ausschuss des Arbeitskreises II der Innenministerkonferenz formulierten Definition organisierter Kriminalität. Hier stimmen bei Hamacher weder die Zeitangaben noch der abgedruckte Definitionstext.

Gesamtbewertung:
Eine Abhandlung zum Thema organisierte Kriminalität in der Bundesrepublik, die aufgrund ihres autobiografischen Einschlags vor allem deshalb von Interesse ist, weil es sich um das Zeugnis eines wichtigen Zeitzeugen der kriminalpolitischen Diskussion in den 70er und 80er Jahren handelt.


Weiterführende Literatur
Busch, Heiner, Organisierte Kriminalität - Vom Nutzen eines unklaren Begriffs, Demokratie und Recht 1992, 374-395
Lampe, Klaus von, Not a Process of Enlightenment: The Conceptual History of Organized Crime in Germany and the United States of America (Kein Prozess der Aufklärung: Die Begriffsgeschichte organisierter Kriminalität in Deutschland und den USA), in: Forum on Crime and Society, Bd. 1(2), 2001, 99-116 (PDF)
Pütter, Norbert, Der OK-Komplex: Organisierte Kriminalität und ihre Folgen für die Polizei in Deutschland, Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot, 1998 (Rezension)


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