Die Barbaren kommen: Kapitalismus und organisiertes Verbrechen
Jean Ziegler
München: C. Bertelsmann, 1998
282 S.


Gegenstand, Methodik, Datengrundlage:
Eine eher journalistische Abhandlung über die Bedrohung der westlichen Demokratien durch "das organisierte Verbrechen", basierend auf amtlichen Materialien und Presseberichten.

Zum Inhalt:
Die Demokratien in Europa werden in ihrer "Existenz bedroht von den unheimlichen Herrschern der organisierten Kriminalität". Diese These versucht der Autor vor allem anhand von zwei Beispielen zu untermauern, russischen Banden ("gehören zu den gefährlichsten, mächtigsten und effizientesten kriminellen Organisationen, die heute unseren Planeten verwüsten") und der Skandalbank BCCI, hinter deren Fassade "eine kriminelle Organisation klassischer Art" Geldwäsche und Waffenhandel betrieben habe.

Beurteilung:
Es gibt Bücher zum Thema organisierte Kriminalität, die haben einen reißerischen Titel und entpuppen sich beim Lesen als nüchterne Analyse. Wer bei Jean Zieglers Buch darauf hofft, nicht zuletzt weil es sich bei dem Autor um einen Professor für Soziologie handelt, wird enttäuscht sein. Denn "Die Barbaren kommen" ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern steht in der einst von Lindlaus "Der Mob" begründeten Tradition von "Aufrüttel-Büchern", die zwar durchaus interessante Einsichten vermitteln, aber in begrifflicher und konzeptioneller Hinsicht die nötige Klarheit und Stringenz vermissen lassen. Insbesondere das stark ins Kulturpessimistische gehende Einleitungskapitel wirkt geradezu abschreckend. Hier wird mit starken Vokabeln, bruchstückhaften Fallbeispielen und theoretischen Anleihen z.B. bei Rousseau und Marx ein Bedrohungsszenario von der wachsenden Macht internationaler Verbrecherorganisationen entworfen, das in sich widersprüchlich ist und weder mit dem in den nachfolgenden Kapiteln ausgebreiteten Material, noch mit dem aktuellen Forschungsstand belegt werden kann.
Zieglers Grundthese lautet: "Das organisierte Verbrechen bildet die höchste Entwicklungsstufe der kapitalistischen Produktionsweise und Ideologie" (S. 42). Geebnet werde der Weg durch Globalisierung, Neoliberalismus, den Zerfall der öffentlichen Moral, bis schließlich die "zivilisierte Gesellschaft dem grenzüberschreitenden organisierten Verbrechen" nichts mehr entgegenzusetzen habe (S. 40). Damit führt Ziegler zwei Denkansätze zusammen, die Kritik an der unkontrollierten Macht multinationaler Konzerne und die in vielen Ländern in unterschiedlichen Erscheinungsformen immer wieder auftauchende Furcht vor einer Unterwanderung durch ausländische Verbrechergruppen, wobei Ziegler wohl die Macht von Mafiagruppen größer einschätzt als die der in der legalen Sphäre verankerten Wirtschaftsimperien.
Die Richtigkeit dieser These darf angezweifelt werden und auch Ziegler selbst scheint sich gar nicht so sicher zu sein. Dazu einige Beispiele:
Ziegler argumentiert eingangs, "die Kartelle des organisierten Verbrechens" verfügten über eine "beeindruckende Effizienz" wegen ihrer zugleich unternehmerischen, militärischen, auf Gewalt beruhenden, und "ethnozentrischen" Struktur, und sie seien auf die Anhäufung von Reichtum, territoriale Vorherrschaft und Eroberung von Märkten ausgerichtet (S. 19f.). Das sind gängige Klischees: Einheit von unternehmerischen und militärischen Strukturen, Monopolisierung illegaler Märkte mit Gewalt, Ethnizität als Fundament krimineller Kooperation.
Dass demgegenüber weniger Monopole als vielmehr konfliktvermeidende Arrangements typisch für illegale Märkte und das Verhalten krimineller Unternehmer sind, deutet Ziegler wenig später mit folgender Aussage an: "In den Territorien, die die Verbrecherorganisationen untereinander aufgeteilt haben, setzen sie zu ihrem Nutzen die Herrschaft von Monopolen durch. Mehr noch: Sie schaffen Oligopole" (S. 42).
Auch dass kriminelle Organisationen nicht so homogen und perfekt organisiert sind wie die gängigen, von ihm reproduzierten Vorstellungsbilder glauben machen wollen, ist Ziegler bekannt: "Die italienische Mafia ist keineswegs ein homogenes Gebilde, sondern ein kompliziertes Geflecht von lokalen und regionalen Beziehungssträngen, von biologischen Familien und konjunkturellen Assoziationen, die sich untereinander bekämpfen, zeitweise verbinden, zusammenarbeiten oder konkurrieren" (S. 49). Dabei ist nicht recht nachvollziehbar, warum Ziegler trotz dieser Einsichten in den voranstehenden Sätzen behauptet, die italienische Mafia sei "eine der bedeutendsten Finanzmächte des Planeten" mit einem "Geschäftsvolumen" von mehr als 50 Mrd. Dollar und einem "Immobilien- und Industrievermögen" von 100 Mrd. Dollar, also doch ein einheitliches Wirtschaftsunternehmen.
Zum Thema "ethnozentrisch strukturierter Verbrecherkartelle" räumt er zwar ein, "zahlreiche internationale Verbrecherorganisationen" seien "multiethnisch strukturiert", aus Sicht von Polizei und Justiz jedoch seien die "ethnozentrischen Verbrecherorganisationen" die "weitaus gefährlichsten" (S. 61). Diese Begründung für eine ausschließliche Beschäftigung mit ethnisch definierten Gruppierungen erscheint gewagt, wird dabei doch die ganze Problematik vorurteilsbestimmter Wahrnehmungsmuster, die ja für die Kriminalitätsbekämpfung im Allgemeinen und die OK-Bekämpfung im Besonderen keineswegs unbedeutend ist (siehe Pütter 1998), einfach ignoriert.
Ein kritischer Umgang mit dem herangezogenen Quellenmaterial zeigt sich nur punktuell. Beschreibungen von hochkomplexen Strukturen, großer Rationalität, eiskalter Planung und bedeutender Führungskompetenz, stellt Ziegler an einer Stelle unter Berufung auf Pierre Bourdieu fest, stimmten "nur zum Teil", denn es werde übersehen, "daß das Phänomen der organisierten Krimianlität auch durch Irrationalität geprägt ist" (S. 71; vgl. auch S. 129).
Diese vorsichtige Herangehensweise an das Sujet wäre für die gesamte Abhandlung wünschenswert gewesen. Dann hätte der Autor vielleicht auch den Mut aufgebracht, etwas zurückhaltender und sorgfältiger zu formulieren und sich nicht in Superlativen zu verlieren. Wenn z.B. in einer Strukturanalyse etwas "Ganz oben an der Spitze" verortet wird, sollte darüber nicht unbedingt noch eine weitere Instanz angesiedelt werden (S. 92f.). Nur ansatzweise gelingt es Ziegler, und zwar in seiner Aufarbeitung des BCCI-Skandals, soziale, kulturelle, ökonomische und politische Zusammenhänge aufeinander zu beziehen und so zu einer halbwegs komplexen Analyse zu gelangen. Insgesamt aber ist hier eine Chance vertan worden, das Phänomen des sich jenseits staatlicher bzw. gesellschaftlicher Kontrolle in globalen Freiräumen entwickelnden Kapitalismus einer eingehenden Kritik zu unterziehen.

Gesamtbewertung:
Wieder ein Buch zum Thema OK, das Alarm schlagen will. Gegenüber seinen vielen Vorgängern hat es in erster Linie den Vorteil der größeren Aktualität aufgrund des jüngeren Erscheinungsdatums. Es überwiegt die Enttäuschung, obwohl die Kapitel über die BCCI doch so interessant sind, dass sie ein wenig über die ärgerliche Einleitung und die nachfolgenden, ebenso in Klischees verfangenen Abschnitte über die Russen-Mafia hinwegtrösten.


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